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Die Tulpen im Kübel

11.04.2022 | Inspiration, Prosa, Schreiben | 4 Kommentare

Dieser Artikel ist Teil einer Prosa-Reihe: kleine, kurze Texte, die sich aus Situationen im alltäglichen Leben ergeben über Dinge, die man vielleicht erst auf den zweiten Blick entdeckt.

Ich laufe die Straße entlang. Mein Blick geht nach vorn auf die Straße, denn das Kopfsteinpflaster, was so wunderschön anzuschauen ist, hat auch seine Tücken. Obwohl ich keine unbequemen Schuhe trage, knicke ich immer wieder um.

Nach einer Weile bleibe ich stehen, um meinen Blick heben zu können. Er wandert über die prachtvollen Villen und Stadthäuser, für die diese Straße bekannt ist, und bleibt an einem Vorgarten hängen. Der Metallzaun ist schon sehr alt und an vielen Stellen ist der Anstrich abgeblättert. Gras wächst hindurch und fällt sanft auf den Gehweg. Dazwischen haben sich kleine Sanddünen gebildet, in denen die ersten Ameisen fleißig ihre Straßen anlegen. Am Eingangstor erhebt sich majestätisch eine Magnolie mit ihren großen rosafarbenen Blüten, die im Begriff sind, sich zu öffnen und ihre ganze Pracht zu zeigen. Die Hecken, die das Grundstück rechts und links einzäunen, wuchern über ihre Grenzen und kleine grüne Blättchen beginnen, sich zu entfalten.

Zwischen all dem Gras, das vor dem Haus in großen Büscheln wächst, blitzen hier und da ein paar Frühblüher hindurch: Schneeglöckchen, die sich schon wieder langsam zurückziehen, Krokusse, deren langen Blüten müde auf dem Boden liegen, da ihre Blütezeit bereits vorbei ist und ein paar Tulpen, deren Zeit jetzt gekommen ist. Unter den Büschen geben sich Scharbockskraut und Buschwindröschen ein gelb-weißes Stelldichein.

Dieser Garten wurde sicherlich einmal mit Liebe angelegt und sehr gepflegt, das lassen gewisse Strukturen noch erkennen. Aber jetzt gibt es scheinbar niemanden mehr, der sich darum kümmert. Genauso wenig wie um das Haus, das traurig und verlassen in all dem Grün steht. Die Gardinen hinter den Fenstern sind grau und verstaubt, ein paar vergilbte Plastikblumen runden das müde Ensemble ab und sollen wahrscheinlich den Anschein erwecken, dass noch jemand darin wohnt.

Die Tiere haben in dieser Wildnis ihr Paradies gefunden. Vögel erfreuen sich an den Verstecken, um ihre Nester zu bauen und ihren Nachwuchs für dieses Jahr aufzuziehen. Bienen, Hummeln und Schmetterlinge statten den Blumen und Blüten der Sträucher einen regen Besuch ab. Sie bedauern es auf gar keinen Fall, dass sich niemand mehr um den Garten kümmert.

Eine Welle von Wehmut überkommt mich, denn ich stelle mir vor, wie gern ich mich um dieses Haus kümmern möchte. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie es aussehen würde, wenn es mir gehören würde – eine Angewohnheit, die mich bei jedem schönen, verlassenen Haus überkommt.

Ich gehe ein paar Schritte weiter und richte meinen Blick auf die Eingangstür. Der marode Eindruck zieht sich hier weiter. Der graue Lack blättert ab, die Scheiben beginnen, blind zu werden, Reste von Spinnweben und Staub tummeln sich in den Ecken. Im Briefkasten stecken noch ein paar Zeitungen, die wöchentlich verteilt werden, und deren Blätter nass und vergilbt unter der Klappe hervorlugen. Aber – welch‘ Überraschung – darunter steht ein Kübel mit Tulpen. Er sticht völlig aus dem Bild heraus, denn er ist neu. Ein glänzend dunkelgrauer Steinkübel, der mit Tulpen in verschiedenen Farben bepflanzt wurde. Die Erde zwischen den Knollen ist frisch und saftig und ein paar Apfelzweige wurden zur Dekoration und Stütze dazwischen gesteckt.

Was für ein Kontrast!

Dieser hübsche, bunte und akkurate Blumenkübel zwischen all der Wildnis und Marodität.

Ich überlege, wie das zusammenhängen kann. War dieses heruntergekommene Haus doch bewohnt? Und wenn ja, wer legte dann so einen Wert auf einen Blumenkübel und vernachlässigte alles andere? Ich stelle mir vor, dass dort eine ältere Frau wohnt, die schon recht pflegebedürftig ist und ab und zu Besuch von der Familie oder Freunden bekommt. Die haben ihr dann – „damit es zu Ostern auch ordentlich ist“ – diesen Farbklecks mitgebracht, um das triste Einerlei ein wenig aufzuhübschen.

Oder vielleicht wurde das Haus von einer jungen Familie übernommen, die sozusagen als erste Amtshandlung etwas Frische hineinbringen wollte.

Ich bekomme keine Antwort.

Langsam drehe ich mich wieder zum Fußweg und gehe weiter. Meine Gedanken sind noch bei diesem Haus und ich spinne weitere Geschichten zur Existenz dieses Tulpenkübels, während ich mich mich wieder auf das Kopfsteinpflaster konzentriere.

Zuhause angekommen, fällt mein erster Blick auf meinen Kübel, der neben der Haustür steht:

Ich will unbedingt Tulpen pflanzen.

4 Kommentare

  1. Jelena Todtenhöfer

    Hallo ich bin Jelena und finde die Geschichte Ihrer Gedanken wunderbar! Ich stelle mir gerade vor das genau solche Beobachtungen und Gedanken auch meine sind , wenn ich durch Straßen , Städte, Orte und ländlich unterwegs bin. In Gedanken versunken bei solchen eigentlich schönen Objekten, die sich die Natur für Leben und wachsen nimmt. Und wie sie aussehen würden , gehörten sie mir. Oder was man sonst so aus verlassenen und vernachlässigten Gebäuden und Objekten machen könnte. Ich lebe in der Wesermarsch wo es auch Höfe und Häuser gibt , die in absehbarer Zeit nicht mehr existieren. Ich fotografiere sie. Einige von den alten ländlichen Anwesen existieren leider nicht mehr. Und mit ihnen verschwindet eine Lebensgeschichte. Ich wünsche Ihnen weiterhin schöne Beobachtungen und Gedanken sowie schöne Naturentdeckungen. Es war wunderbar Ihre schöne Erlebnisgeschichte zu lesen. Danke . Herzlichen Gruß von Jelena

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    • Kerstin

      Liebe Jelena,
      ich freue mich sehr über Ihren Kommentar. Und wie schön, dass Sie diese „lost places“ mit der Kamera einfangen. Das hate ich auch immer vorgehabt. Haben Sie diese Bilder irgendwo veröffentlicht? Ihnen auch alles Liebe auf dem Weg und herzliche Grüße

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  2. Christiane

    Liebe Kerstin,
    deine Impressionen und Gedanken von deinem Spaziergang in Oldenburg sind ganz berührend. Herzlichen Dank dafür, dass du mich an deiner Stimmung hast teilnehmen lassen! Sie sind eine wichtige Anregung für mich, bewusster und aufmerksamer zu gehen, zu sehen und zu fühlen.
    Eine Freundin von mir, der ich den Text geschickt habe, sagte, dass es ihr beim Betrachten alter Häuser ganz ähnlich gehe. Sie lässt dann ihrer Fantasie freien Raum und sucht nach möglichen Geschichten.
    Du hast ganz viel Freude bereitet!
    Ganz liebe Grüße, fühle dich herzlich gedrückt und genieße fröhliche Ostertage!
    Christiane
    Heute Abend habe ich beim rewe in Zetel Ingo getroffen. Er war ganz begeistert von deinem Geburtstagsfrühstück.

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    • Kerstin

      Danke, liebe Christiane. das freut mich sehr, dass ich dich inspirieren konnte.
      Dir auch schöne Ostertage und ganz liebe Grüße

      Antworten

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Ich bin Kerstin – leidenschaftliche Sammlerin von schönen Momenten, aber auch ästhetischen Buchstaben und Bildern. Ich brenne dafür, die Welt zu bereisen, neue Einblicke zu gewinnen und meinen Horizont zu erweitern.
Ich liebe es, Gedanken zu strukturieren und sie dann auf Papier zu bringen. Entweder als Bild oder als Text.

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